"Ein seltener Heiliger"
Exklusiv für Süddeutsche Zeitung
SZ Wochenende 14.9.2002
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von DIZ München GmbH 16.9.2002

Der Karl, das ist ein seltener Heiliger", hieß es immer in der Familie. Was man so sagt, um sich abzugrenzen. Der sei in Japan. Missionar. "Der ist nach dem Krieg da hingegangen." Und vorher hatte er sich mit "den Nazis" angelegt. Der Karl: Franziskanerpater Karl Gereon Goldmann. Mein Onkel. Einer, der es hier nicht mehr ausgehalten hat.


Rund 30 Jahre lang haben wir uns nicht mehr gesehen. Damals spielte er Fußball im Garten. Ein 1,88 Meter großer schlanker Mann im braunen Habit holt aus zum Schuss. Eine Bewegung auf einem alten kleinen Schwarz-Weiß-Foto festgehalten, die was von der Leichtigkeit eines Derwischs hat. Die Adresse des Derwischs hat sich mir eingebrannt: Tokio, Itabashi Ku, Saiwai Cho 8.


Wo ist er jetzt? In Fulda. Auf der Krankenstation im Mutterkloster der Franziskaner auf dem Frauenberg. Und wie ist er jetzt? Sein Zimmer ist bescheiden, hell. Ein Bett, zwei leicht schäbige Stühle. Er sitzt am Fenster in einem hochlehnigen Ledersessel: Managerstuhl. Ein offener Blick. Der 85- Jährige im braunen Habit der Franziskaner schaut mich aus blauen Augen gerade an. Er soll noch einmal von vorne erzählen. Das kommt jetzt öfter vor, seitdem er wieder zurück ist.


Er wird 1916 in eine bürgerliche erzkatholische Großfamilie geboren. Vater Tierarzt, sechs Brüder. Nach dem Tod der Mutter heiratet der Vater deren Schwester. Noch einmal fünf Kinder. Ich frage: Wie war er, damals, als Junge? Er habe die kleineren Geschwister drangsaliert, der Vater habe zum Rohrstock gegriffen, heißt es. Ein wildes Kind. Unbeugsam, ein Trotzkopf.


Chuzpe und Glauben


In seiner Jugend wird er schon für viele zum "seltenen Heiligen", kindlicher Trotz reift zu politischem Widerstand. "Wir haben mit der Hitlerjugend blutige Kämpfe ausgetragen. Das ging ja gar nicht anders. Die Jesuiten im Bund Neudeutschland, bei denen ich 1931 eingetreten bin, die haben uns erst so richtig scharf gemacht auf die Nazis." Er spricht leise, präzise, druckreif.


Gut, es gab einige wie ihn. Wie kommt so einer aber zum Bettelorden? Der Pater erzählt mir von einer Schwester Solana der "Englischen Fräulein", damals, noch in Fulda. Die habe ihm als Achtjährigem gesagt: "Du bist ein besonderer Fall" und 1924, am Tag nach dem Tod seiner Mutter, ein Gelübde abgelegt, so lange für "ihren Karl" zu beten, bis der zum Priester geweiht sei. Was nach der Rechnung der geistlichen Ersatzmutter 20 Jahre dauern würde.


Ich habe gedacht, die ist übergeschnappt", sagt er. Er fällt seine Urteile schnell, kompromisslos. Aber Missionar werden, das wollte er schon damals. Und die Franziskaner - die haben ihm sofort gefallen. Gemeinschaft der Betenden. Anspruchslos. Und er wollte nach Japan. In das ferne Land. Erst Jahrzehnte später habe er von dem Gebetsversprechen erfahren und die Messbücher gesehen, in denen die Schwester für ihn gesorgt habe. Und mit ihr an die 200 andere im Kloster der "Englischen Fräulein". 20 Jahre nach dem ersten "Gegrüßet seist Du, Maria" wurde er Priester.


Ich frage: "Warum warst du nach der Einberufung zur Wehrmacht 1936 so schnell bei der Waffen-SS?" Das sei Schikane gewesen, er habe sich immer mit den Offizieren angelegt. Die hätten ihm nicht standhalten können. Rhetorisch, ideologisch. Keine Chance gegen Jesuitenschulung im Bund Neudeutschland, Philosophiestudium, hohe Intelligenz, Chuzpe, Kompromisslosigkeit, Glauben. Da ist Widerstand schon zum Lebensprinzip geworden. Gegen den Strom - wie auch der Titel eines Buches über sein Leben lautet.


Ein Priester schießt nicht!


In die Waffen-SS. Zur Elite. Das muss ihm geschmeichelt haben. Dass sein hoher Anspruch in einer absurden Schicksalsdrehung anerkannt wurde. Er erzählt: Heinrich Himmler, Reichsführer SS, besuchte seine Einheit im Winter 1940 an der Front in Polen. Er stellt ihn, den Offiziersanwärter, zur Rede. Warum er den Schießbefehl verweigere? "Ich will Priester werden, und ein Priester schießt nicht!", erinnert sich Pater Gereon an seine Antwort. Himmler darauf: "Solche Leute wie Sie brauchen wir in der SS!" Religionsfreiheit sei ihm als Ergebnis des Wortduells mit Himmler zugesichert worden. Schriftlich. Ein Stück Papier. Er sei dann doch aus der SS "rausgeflogen" und zur Wehrmacht zurückversetzt worden, da er sich bei der anstehenden Offiziersvereidigung geweigert habe, aus der Kirche auszutreten.


Fakten können zu Mythen werden. Hier zum Märtyrer-Mythos. Dazu passt die Geschichte vom Papstbesuch Gereons. Das war 1944. Ein 28-Jähriger, blauäugig, voller Gottvertrauen, lernt kurz zuvor auf Heimaturlaub den Grafen Trott zu Solz kennen, einen Mann aus dem Umkreis von Stauffenberg. "Ich war Kurier des 20.Juli. Man hat mir verschlüsselte Botschaften mitgegeben. Die durfte ich nur auswendig lernen." Er habe die Botschaften dem Verbindungsmann bei der deutschen Botschaft in Rom übermittelt. Und als Dankeschön die Papstaudienz "verlangt". Schließlich habe ihm das die Schwester Solana vorhergesagt, dass er in Kriegszeiten den Papst um die fehlende Priesterweihe bitten müsse. Die päpstliche Vollmacht existiert noch.


Natürlich hat so einer viele Feinde, Neider. Der hat Kopf und Kragen riskiert. Glück gehabt, der ist was Besonderes und zeigt das auch! Im Januar 1946 wollen sie sich rächen. Nach der Gefangennahme in Monte Cassino erhält er im Gefängnis von Meknes in "Französisch-Marokko" die Nachricht von seiner Hinrichtung. Das Kriegsgericht habe ihn als "ausgewiesenen Nazi" enttarnt und zum Tod durch Erschießen Ende Februar verurteilt. Lügen auf Eid. Weg mit ihm.


Ich sehe ihn mir an. Der Greis wirkt ungerührt. Er habe einen auf Lateinisch geschriebenen Brief aus seiner Zelle und über das Rote Kreuz nach Rom in den Vatikan lanciert. Papst Pius XII. habe sofort den Kontakt nach Paris aufgenommen. "Und in der Nacht, da ich hingerichtet werden sollte, eine halbe Stunde vor der Exekution, kam das Telefon durch."
Sein erstes Leben endet. Jahre der Seelsorge in Gefangenenlagern in Nordafrika, Freilassung 1947. In Deutschland schließt er sein Theologiestudium ab, beginnt als Jugendseelsorger.


Goldesel in Tokio


Das zweite Leben von Pater Gereon Goldmann beginnt am 22. Januar 1954, dem Tag des Anfluges auf Tokio.


Er erzählt. Von dem "unsagbaren Elend" in der armen Vorstadt Itabashi Ku, der Holzbaracke, die sich "Pfarrei St. Elisabeth" nennt. Davon, wie er anfängt, Lumpen, Bleche, Metall zu sammeln, um über die Runden zu kommen. Dass er aus dem Überschuss des Altmetallverkaufs wieder an die Armen gibt. Dass er mit seiner "Lumpensammler-Studienstiftung" in den folgenden Jahren an die Hundert studieren lässt. Dass er dafür schon 1965 vom Tenno den höchsten japanischen Orden für Sozialarbeit, den "Orden für die gute Tat", erhält.

Dass er nach einem zinslosen Darlehenssystem 50 Sozialwohnungen baut. Sich gegen den Vietnamkrieg auf die Straßen stellt. Einen Betreuungsdienst für die Bettler und Verwahrlosten aufbaut. Dass er Kirchen, Klöster, Heime baut. Von Hokkaido bis Südjapan.


Seltsam: Der Greis, der da erzählt, ist weit, weit weg. Aber ich nehme ihm das Gehörte ab. Er hat eine Ausstrahlung, die über jeden Zweifel erhaben ist. Er ist fest davon überzeugt ist, dass "Fügungen in meinem Leben im Spiel waren... Weil ich das einfach tun musste. Wenn ich das Elend sehe, muss ich als Christ helfen. Das geht gar nicht anders." Trotz, Widerstand und jetzt das Gefühl, eine Mission zu haben. Er ist autoritär, wie er Christ ist: bis auf die Knochen.


Er will das Gelingen seiner Mission begreifbar machen, spricht jetzt von seinen "Wohltätern". Deutet auf eine alte Holzkartei auf einem Schemel in der Ecke. "Dahinten, da sind 10000 Adressen drin. Und Tausende sind ja schon gestorben, Tausende kommen wieder dazu."

Kann er bei diesem Heer an Unterstützern bei den Bauvorhaben vor Ort sicher gewesen sein, dass die Finanzierung klappt? "Die war vollkommen unklar. Ich habe zum Beispiel angefangen zu bauen und sage dem Baumeister: ‚Bauen Sie mir das?' ‚Ja', sagt der. Sag ich: ‚Was kostet der Spaß?' - Kostenvoranschlag: 180000 Mark. Holz natürlich. - Sag ich: ‚Schön, wenn ich Ihnen verspreche, dass Sie am Tag der Einweihung das Geld bekommen?' - ‚Dann bau ich.' Dann hat der gebaut."


Und am Tag der Einweihung war aber das Geld nicht da. Es war einfach bis dahin nicht aufzutreiben gewesen. Da liegt plötzlich auf seinem Bürotisch ein anonymes Kuvert. 183000 Mark. "Ich weiß bis heute nicht, wo das Geld herkam. Ich weiß es wirklich nicht." Er weiß es nicht. Auch nicht in Tokio, nicht in Indien, wo er für die Karmeliter Kirchen, Heime, Schulen baut. Seine Pfarrei, die sei doch schon in Ordnung gewesen, aber in Südindien!Da war die Not noch um vieles schlimmer. Aber auch da weiß er eigentlich nicht genau, wie er das ganze Geld zusammengebracht hat. Insgesamt 50 Millionen Mark waren es. Alles von Wohltätern aus der 10000-er-Kartei. Geldspenden auf Treu und Glauben. Und er hat geglaubt und gebetet. Unbeirrbar. Und angepackt. Mehr nicht.


Karls Märchenstunde", kommentierte das seine Verwandtschaft in Deutschland oft. Wissen vom Hörensagen. Andere sind vor kaltem Neid erblasst. Geht da einer hin, tauft 900, hält in den Jahren in ganz Japan an die 5000 Predigten und Vorträge. Okay, Missionar. Doch er baut. Und baut. Und setzt einen 16-Millionen-Bau für ein Institut für Kirchenmusik gegen alle Widerstände durch. "Gereon, du bist unser bestes Pferd im Stall. Aber es ist gut, wenn das Pferd an der Front weidet", sollen die Oberen im Mutterkloster in Fulda immer mal wieder zu ihm gesagt haben. Ein Goldesel.


Er lebt einfach weiter


Ich habe einen seiner Brüder gefragt. Der von Köln aus über die entsprechende Stelle beim Erzbistum genau weiß, wie aus Missionsfonds und Privatspenden 50 Millionen zusammenkamen, der von einer cleveren Anlagemanagerin der Bank erzählt. Er sagt: "Das stimmt alles!" Viel Geld an das Erzbistum Tokio sei gerade in der ersten Zeit über den Weltmissionsfonds des Patenbistums in Köln nach Japan geflossen. In manchen Jahren in gut sechsstelliger Höhe. Die "Kartei der 10 000 Wohltäter" sei dann erst in ganz Deutschland, schließlich in Europa gewachsen.


1994 erklären ihn die Ärzte in Tokio für sterbenskrank. Das Herz. Seine Mitarbeiter erhalten die Telefonnummer des Krematoriums. Gereon Goldmann wird ins Flugzeug getragen. Zurück nach Fulda. Er lebt einfach weiter.


Er müsse jetzt viel schlafen, erzählt er heute. Doch, es gehe ihm hier gut. Ich sehe ihn an. Er wirkt erschöpft. Er wäre gerne in Japan geblieben. Sagt er mit Inbrunst. Der Blick bleibt fest. Was er erreicht hat? Dieses Wort würde er "nie benutzen"! Sein Dasein in der kleinen Krankenstation in Fulda ist für ihn nur eine Art Nachleben. In dem er wieder auf Normalmaß schrumpft.


Als ich die Krankenstation wieder verlasse, denke ich: Ich hätte ihn damals in Tokio besuchen sollen. Den Mann, der in Deutschland gescheitert wäre. Mit der Biografie: Waffen-SS. Ich hätte den Missionar besuchen sollen, der seine Autorität und seinen Glauben in Japan durchgesetzt hat. Den Onkel, der anders war, der hier keine Chance gehabt hätte und nun das Bundesverdienstkreuz hat.


Der aber zum "Lumpensammler von Tokio" wurde.

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