Der Karl, das ist ein seltener Heiliger",
hieß es immer in der Familie. Was man so sagt, um sich abzugrenzen.
Der sei in Japan. Missionar. "Der ist nach dem Krieg da hingegangen."
Und vorher hatte er sich mit "den Nazis" angelegt. Der Karl:
Franziskanerpater Karl Gereon Goldmann. Mein Onkel. Einer, der es hier
nicht mehr ausgehalten hat.
Rund 30 Jahre lang haben wir uns nicht
mehr gesehen. Damals spielte er Fußball im Garten. Ein 1,88 Meter
großer schlanker Mann im braunen Habit holt aus zum Schuss. Eine
Bewegung auf einem alten kleinen Schwarz-Weiß-Foto festgehalten,
die was von der Leichtigkeit eines Derwischs hat. Die Adresse des Derwischs
hat sich mir eingebrannt: Tokio, Itabashi Ku, Saiwai Cho 8.
Wo ist er jetzt? In Fulda. Auf der Krankenstation
im Mutterkloster der Franziskaner auf dem Frauenberg. Und wie ist er
jetzt? Sein Zimmer ist bescheiden, hell. Ein Bett, zwei leicht schäbige
Stühle. Er sitzt am Fenster in einem hochlehnigen Ledersessel:
Managerstuhl. Ein offener Blick. Der 85- Jährige im braunen Habit
der Franziskaner schaut mich aus blauen Augen gerade an. Er soll noch
einmal von vorne erzählen. Das kommt jetzt öfter vor, seitdem
er wieder zurück ist.
Er wird 1916 in eine bürgerliche erzkatholische
Großfamilie geboren. Vater Tierarzt, sechs Brüder. Nach dem
Tod der Mutter heiratet der Vater deren Schwester. Noch einmal fünf
Kinder. Ich frage: Wie war er, damals, als Junge? Er habe die kleineren
Geschwister drangsaliert, der Vater habe zum Rohrstock gegriffen, heißt
es. Ein wildes Kind. Unbeugsam, ein Trotzkopf.
Chuzpe und Glauben
In seiner Jugend wird er schon für
viele zum "seltenen Heiligen", kindlicher Trotz reift zu politischem
Widerstand. "Wir haben mit der Hitlerjugend blutige Kämpfe
ausgetragen. Das ging ja gar nicht anders. Die Jesuiten im Bund Neudeutschland,
bei denen ich 1931 eingetreten bin, die haben uns erst so richtig scharf
gemacht auf die Nazis." Er spricht leise, präzise, druckreif.
Gut, es gab einige wie ihn. Wie kommt so
einer aber zum Bettelorden? Der Pater erzählt mir von einer Schwester
Solana der "Englischen Fräulein", damals, noch in Fulda.
Die habe ihm als Achtjährigem gesagt: "Du bist ein besonderer
Fall" und 1924, am Tag nach dem Tod seiner Mutter, ein Gelübde
abgelegt, so lange für "ihren Karl" zu beten, bis der
zum Priester geweiht sei. Was nach der Rechnung der geistlichen Ersatzmutter
20 Jahre dauern würde.
Ich habe gedacht, die ist übergeschnappt",
sagt er. Er fällt seine Urteile schnell, kompromisslos. Aber Missionar
werden, das wollte er schon damals. Und die Franziskaner - die haben
ihm sofort gefallen. Gemeinschaft der Betenden. Anspruchslos. Und er
wollte nach Japan. In das ferne Land. Erst Jahrzehnte später habe
er von dem Gebetsversprechen erfahren und die Messbücher gesehen,
in denen die Schwester für ihn gesorgt habe. Und mit ihr an die
200 andere im Kloster der "Englischen Fräulein". 20 Jahre
nach dem ersten "Gegrüßet seist Du, Maria" wurde
er Priester.
Ich frage: "Warum warst du nach der
Einberufung zur Wehrmacht 1936 so schnell bei der Waffen-SS?" Das
sei Schikane gewesen, er habe sich immer mit den Offizieren angelegt.
Die hätten ihm nicht standhalten können. Rhetorisch, ideologisch.
Keine Chance gegen Jesuitenschulung im Bund Neudeutschland, Philosophiestudium,
hohe Intelligenz, Chuzpe, Kompromisslosigkeit, Glauben. Da ist Widerstand
schon zum Lebensprinzip geworden. Gegen den Strom - wie auch der Titel
eines Buches über sein Leben lautet.
Ein Priester schießt nicht!
In die Waffen-SS. Zur Elite. Das muss ihm
geschmeichelt haben. Dass sein hoher Anspruch in einer absurden Schicksalsdrehung
anerkannt wurde. Er erzählt: Heinrich Himmler, Reichsführer
SS, besuchte seine Einheit im Winter 1940 an der Front in Polen. Er
stellt ihn, den Offiziersanwärter, zur Rede. Warum er den Schießbefehl
verweigere? "Ich will Priester werden, und ein Priester schießt
nicht!", erinnert sich Pater Gereon an seine Antwort. Himmler darauf:
"Solche Leute wie Sie brauchen wir in der SS!" Religionsfreiheit
sei ihm als Ergebnis des Wortduells mit Himmler zugesichert worden.
Schriftlich. Ein Stück Papier. Er sei dann doch aus der SS "rausgeflogen"
und zur Wehrmacht zurückversetzt worden, da er sich bei der anstehenden
Offiziersvereidigung geweigert habe, aus der Kirche auszutreten.
Fakten können zu Mythen werden. Hier
zum Märtyrer-Mythos. Dazu passt die Geschichte vom Papstbesuch
Gereons. Das war 1944. Ein 28-Jähriger, blauäugig, voller
Gottvertrauen, lernt kurz zuvor auf Heimaturlaub den Grafen Trott zu
Solz kennen, einen Mann aus dem Umkreis von Stauffenberg. "Ich
war Kurier des 20.Juli. Man hat mir verschlüsselte Botschaften
mitgegeben. Die durfte ich nur auswendig lernen." Er habe die Botschaften
dem Verbindungsmann bei der deutschen Botschaft in Rom übermittelt.
Und als Dankeschön die Papstaudienz "verlangt". Schließlich
habe ihm das die Schwester Solana vorhergesagt, dass er in Kriegszeiten
den Papst um die fehlende Priesterweihe bitten müsse. Die päpstliche
Vollmacht existiert noch.
Natürlich hat so einer viele Feinde,
Neider. Der hat Kopf und Kragen riskiert. Glück gehabt, der ist
was Besonderes und zeigt das auch! Im Januar 1946 wollen sie sich rächen.
Nach der Gefangennahme in Monte Cassino erhält er im Gefängnis
von Meknes in "Französisch-Marokko" die Nachricht von
seiner Hinrichtung. Das Kriegsgericht habe ihn als "ausgewiesenen
Nazi" enttarnt und zum Tod durch Erschießen Ende Februar
verurteilt. Lügen auf Eid. Weg mit ihm.
Ich sehe ihn mir an. Der Greis wirkt ungerührt.
Er habe einen auf Lateinisch geschriebenen Brief aus seiner Zelle und
über das Rote Kreuz nach Rom in den Vatikan lanciert. Papst Pius
XII. habe sofort den Kontakt nach Paris aufgenommen. "Und in der
Nacht, da ich hingerichtet werden sollte, eine halbe Stunde vor der
Exekution, kam das Telefon durch."
Sein erstes Leben endet. Jahre der Seelsorge in Gefangenenlagern in
Nordafrika, Freilassung 1947. In Deutschland schließt er sein
Theologiestudium ab, beginnt als Jugendseelsorger.
Goldesel in Tokio
Das zweite Leben von Pater Gereon Goldmann
beginnt am 22. Januar 1954, dem Tag des Anfluges auf Tokio.
Er erzählt. Von dem "unsagbaren
Elend" in der armen Vorstadt Itabashi Ku, der Holzbaracke, die
sich "Pfarrei St. Elisabeth" nennt. Davon, wie er anfängt,
Lumpen, Bleche, Metall zu sammeln, um über die Runden zu kommen.
Dass er aus dem Überschuss des Altmetallverkaufs wieder an die
Armen gibt. Dass er mit seiner "Lumpensammler-Studienstiftung"
in den folgenden Jahren an die Hundert studieren lässt. Dass er
dafür schon 1965 vom Tenno den höchsten japanischen Orden
für Sozialarbeit, den "Orden für die gute Tat",
erhält.
Dass er nach einem zinslosen Darlehenssystem
50 Sozialwohnungen baut. Sich gegen den Vietnamkrieg auf die Straßen
stellt. Einen Betreuungsdienst für die Bettler und Verwahrlosten
aufbaut. Dass er Kirchen, Klöster, Heime baut. Von Hokkaido bis
Südjapan.
Seltsam: Der Greis, der da erzählt,
ist weit, weit weg. Aber ich nehme ihm das Gehörte ab. Er hat eine
Ausstrahlung, die über jeden Zweifel erhaben ist. Er ist fest davon
überzeugt ist, dass "Fügungen in meinem Leben im Spiel
waren... Weil ich das einfach tun musste. Wenn ich das Elend sehe, muss
ich als Christ helfen. Das geht gar nicht anders." Trotz, Widerstand
und jetzt das Gefühl, eine Mission zu haben. Er ist autoritär,
wie er Christ ist: bis auf die Knochen.
Er will das Gelingen seiner Mission begreifbar
machen, spricht jetzt von seinen "Wohltätern". Deutet
auf eine alte Holzkartei auf einem Schemel in der Ecke. "Dahinten,
da sind 10000 Adressen drin. Und Tausende sind ja schon gestorben, Tausende
kommen wieder dazu."
Kann er bei diesem Heer an Unterstützern
bei den Bauvorhaben vor Ort sicher gewesen sein, dass die Finanzierung
klappt? "Die war vollkommen unklar. Ich habe zum Beispiel angefangen
zu bauen und sage dem Baumeister: Bauen Sie mir das?' Ja',
sagt der. Sag ich: Was kostet der Spaß?' - Kostenvoranschlag:
180000 Mark. Holz natürlich. - Sag ich: Schön, wenn
ich Ihnen verspreche, dass Sie am Tag der Einweihung das Geld bekommen?'
- Dann bau ich.' Dann hat der gebaut."
Und am Tag der Einweihung war aber das
Geld nicht da. Es war einfach bis dahin nicht aufzutreiben gewesen.
Da liegt plötzlich auf seinem Bürotisch ein anonymes Kuvert.
183000 Mark. "Ich weiß bis heute nicht, wo das Geld herkam.
Ich weiß es wirklich nicht." Er weiß es nicht. Auch
nicht in Tokio, nicht in Indien, wo er für die Karmeliter Kirchen,
Heime, Schulen baut. Seine Pfarrei, die sei doch schon in Ordnung gewesen,
aber in Südindien!Da war die Not noch um vieles schlimmer. Aber
auch da weiß er eigentlich nicht genau, wie er das ganze Geld
zusammengebracht hat. Insgesamt 50 Millionen Mark waren es. Alles von
Wohltätern aus der 10000-er-Kartei. Geldspenden auf Treu und Glauben.
Und er hat geglaubt und gebetet. Unbeirrbar. Und angepackt. Mehr nicht.
Karls Märchenstunde", kommentierte
das seine Verwandtschaft in Deutschland oft. Wissen vom Hörensagen.
Andere sind vor kaltem Neid erblasst. Geht da einer hin, tauft 900,
hält in den Jahren in ganz Japan an die 5000 Predigten und Vorträge.
Okay, Missionar. Doch er baut. Und baut. Und setzt einen 16-Millionen-Bau
für ein Institut für Kirchenmusik gegen alle Widerstände
durch. "Gereon, du bist unser bestes Pferd im Stall. Aber es ist
gut, wenn das Pferd an der Front weidet", sollen die Oberen im
Mutterkloster in Fulda immer mal wieder zu ihm gesagt haben. Ein Goldesel.
Er lebt einfach weiter
Ich habe einen seiner Brüder gefragt.
Der von Köln aus über die entsprechende Stelle beim Erzbistum
genau weiß, wie aus Missionsfonds und Privatspenden 50 Millionen
zusammenkamen, der von einer cleveren Anlagemanagerin der Bank erzählt.
Er sagt: "Das stimmt alles!" Viel Geld an das Erzbistum Tokio
sei gerade in der ersten Zeit über den Weltmissionsfonds des Patenbistums
in Köln nach Japan geflossen. In manchen Jahren in gut sechsstelliger
Höhe. Die "Kartei der 10 000 Wohltäter" sei dann
erst in ganz Deutschland, schließlich in Europa gewachsen.
1994 erklären ihn die Ärzte in
Tokio für sterbenskrank. Das Herz. Seine Mitarbeiter erhalten die
Telefonnummer des Krematoriums. Gereon Goldmann wird ins Flugzeug getragen.
Zurück nach Fulda. Er lebt einfach weiter.
Er müsse jetzt viel schlafen, erzählt
er heute. Doch, es gehe ihm hier gut. Ich sehe ihn an. Er wirkt erschöpft.
Er wäre gerne in Japan geblieben. Sagt er mit Inbrunst. Der Blick
bleibt fest. Was er erreicht hat? Dieses Wort würde er "nie
benutzen"! Sein Dasein in der kleinen Krankenstation in Fulda ist
für ihn nur eine Art Nachleben. In dem er wieder auf Normalmaß
schrumpft.
Als ich die Krankenstation wieder verlasse,
denke ich: Ich hätte ihn damals in Tokio besuchen sollen. Den Mann,
der in Deutschland gescheitert wäre. Mit der Biografie: Waffen-SS.
Ich hätte den Missionar besuchen sollen, der seine Autorität
und seinen Glauben in Japan durchgesetzt hat. Den Onkel, der anders
war, der hier keine Chance gehabt hätte und nun das Bundesverdienstkreuz
hat.
Der aber zum "Lumpensammler von Tokio"
wurde.
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